Full text: Unter den Brücken der Metaphysik

seine Rolle. Bloß hatte man die Lust verloren, es in Gang zu 
setzen. Es war wie in einer Familie, wo der Vater bei jeder Gelegen¬ 
heit das treffende Wort, das abschließende Urteil spricht: die Kinder 
merken schon bald, daß er alle daran hindert, selber nachzudenken. 
Sie fragen sich: »Aber was habe eigentlich ich damit zu tun?« 
Kurzum, das Denken mußte wieder von vorn beginnen. 
Es ist bekannt, in welcher Weise — von Vater Hegel ausgehend und 
doch im Widerspruch zu ihm — Marx und Kierkegaard das Denken 
neu begannen. Die Lösung Diltheys war ihrer Natur nach vor¬ 
sichtiger. Man kam zu dem Schluß, daß der Mensch allein — sei 
er auch das größte Genie der Welt — nicht im Stande sei, alk 
Probleme zu lösen, die diese Welt ihm stellt. 
Es gibt deren zu viele und zu verschiedene, als daß die geringe 
Erfahrung eines einzelnen — die überdies durch die Mythen seines 
Milieus, durch die Zielsetzungen seiner Zeit eingeschränkt ist — 
dafür ausreichen könnte. Selbst Hegel mußte hier und da mogeln. 
Dilthey und seine Schüler erdachten also den Traum einer Philo¬ 
sophie in der zweiten Potenz, die zu Beginn sich die verschiedenen 
Formen zu eigen macht — mit dem Vorbehalt, später über sie hinaus 
zu gehen —, in der die Menschen bisher die Dinge nicht nur sich 
vorgestellt, sondern auch sich angeeignet haben; die Erfahrungen 
und Reflexionen der Juristen wie der Dichter, der Feldherrn wie der 
Philosophen (deren Systeme von nun an wie die Zeichen von 
etwas anderem erscheinen, das herauszulösen die Aufgabe der 
Metaphysiker ist). 
Es galt eine Unmenge Reflexionen zu verstehen, ja sie neu zu 
schaffen und mimisch darzustellen; die Synthese würde später 
kommen. Kurz, der Historismus mußte ebenso über die Historie 
hinausgehen wie die Enzyklopädie, die die Gegenstände, die Tiere 
und die Länder benennt und klassifiziert, über den Bericht eines 
naiven Forschungsreisenden hinausgeht. 
Das war das Unternehmen, das auch Groethuysen, der Schüler und 
Freund Diltheys, in der Philosophischen Anthropologie und in der 
Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung ver¬ 
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