Full text: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung (1)

Die Umbildung des religiösen Erlebnisses 
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so sehr auch im übrigen der bürgerliche Gott sich von dem 
des Volkes unterscheiden mag. Was vielleicht zu dieser Ver- 
mutung Anlaß geben könnte, ist der Umstand, daß die Philo- 
sophen in ihren Systemen der Gottheit eine Stelle angewiesen 
haben und es manchmal scheinen könnte, als hätten sie 
ihn überhaupt erst erfunden, indem sie seine Existenz be- 
weisen und seine hauptsächlichsten Eigenschaften aufzählen. 
So kann sich auch der gebildete Laie manchmal einbilden, daß 
er den Weg zu Gott ganz selbständig gefunden habe und seine 
Gottheit mit der christlichen nichts mehr zu tun habe — oder 
vielmehr, daß seine Gottheit etwas Ursprünglicheres, „Natür- 
licheres‘‘ vorstelle, als der Gott der Christen. Wenn wir 
aber in Betracht ziehen, daß die christliche Vorstellung der 
Gottheit verschiedene Momente in sich birgt, die nach ganz 
verschiedenen Richtungen hin entwickelt werden konnten, so 
liegt wohl die Annahme näher, daß der Laie im Grunde nur 
den alten Gott „säkularisiert‘ und nicht eigentlich eine neue 
Vorstellung Gottes gebildet oder eine solche von anderer Seite 
her empfangen hat. 
Dies alles soll nur zeigen, daß es nicht angängig ist, die ganze 
moderne religiöse Entwicklung des Bürgertums in Frankreich 
auf den einfachen Gegensatz: gläubig oder ungläubig zurück- 
zuführen. Im Grunde handelt es sich eher um eine fortlaufende 
Bewegung, um einen mehr oder weniger stetigen Fortschritt in 
der Emanzipation des Bürgertums. Manchmal scheinen im 
Leben der Einzelnen oder auch der ganzen Klasse die Gegen- 
sätze sich zuzuspitzen. Der Einzelne verliert den Glauben, er sagt 
sich von der Religion los. Man möchte auch manchmal meinen, 
das ganze Bürgertum sei bereit, sich dieser oder jener extremen 
philosophischen Theorie hinzugeben. Wenn man indessen auf 
den Grund der Dinge geht, so handelt es sich weniger um große 
entscheidende Kämpfe, in denen der prinzipielle Gegensatz 
klar zum Ausdruck gekommen wäre, als um eine Reihe fort- 
laufender Gefechte, die immer von Neuem einsetzen und die 
oft damit enden, daß der gebildete Laie sich gewisser Stellungen 
des Gegners bemächtigt, um sie zu seinen eigenen Gunsten 
zu verwerten. Oft sind es überhaupt weit eher Spannungs- 
zustände und Konflikte, die den Einzelnen und seine Gemein- 
schaft selbst betreffen — ein inneres Ringen, ein Kämpfen mit 
sich selbst, ein Streben, sich von gewissen Vorstellungs- und
	        
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